Gedanken zu Labels, Selbstbezeichnungen und Verallgemeinerungen

Gelegentlich stolpere ich an verschiedenen Stellen über Aussagen wie „Man müsste sich ja eigentlich nicht auf Sexualität/Geschlecht festlegen.“

In vielen Fällen sprechen die Menschen, die solche Dinge sagen von ihrer eigenen Sexualität und ihrem eigenen Geschlecht. Das ist vollkommen in Ordnung und ich will hiermit niemandem seine*ihre Selbstbezeichnungen (oder das bewusste Fehlen dieser) nehmen, aber ich habe dazu ein paar Gedanken.

  1. „festlegen“: Autsch. Dieses Wort ist für mich immer ein bisschen wir ein Tritt in meinem Magen. Ich lege weder mein Geschlecht noch meine Sexualität fest. Die sind einfach da oder nicht und ich habe darauf keinen Einfluss. Ich kann festlegen, welche Bezeichnung(en) ich für mich benutzen möchte, um mein Geschlecht und meine Sexualität zu beschreiben. Ich kann festlegen, dass ich mich nicht in eine (oder mehrere) Schubladen stecken möchte. Ich kann zum Beispiel der Meinung sein, dass ich das nicht brauche, weil ich nicht wissen kann, was ich in der Zukunft fühle. Aber ich kann mich nicht auf eine Sexualität oder ein Geschlecht festlegen.
  2. „man“: Ich tue mich bei solchen Aussagen unglaublich schwer mit verallgemeinernden Formulierungen wie dieser. Wer ist denn dieses man? Seid ihr der Meinung, dass Labels allgemein abgeschafft werden sollen? Oder verallgemeinert ihr gerade eure eigenen Gedanken und Gefühle, weil es sich so richtig anfühlt? Ich kann verstehen, dass es Menschen gibt, die Labels doof finden und glauben, es wäre alles einfacher, wenn wir keine mehr bräuchten. Aber so funktioniert unsere Gesellschaft im Moment nicht und ganz ehrlich: Ich sehe es nicht, wie ein Zusammenleben funktionieren soll, ohne dass wir Dingen einen Namen geben können. Für mich ist es nur wichtig, dass wir darauf hinarbeiten, dass Labels, die vom normativen Weltbild abweichen nicht länger weniger wert oder besonders sind. „Wir sind doch alle Menschen, Labels sind doch unwichtig“ funktioniert nur, wenn Leute nicht mehr aufgrund von Geschlecht oder Sexualität diskriminiert, angefeindet oder verletzt werden.
  3. Für mich persönlich bringen solche verallgemeinernden Aussagen, die über persönliches Empfinden hinausgehen, immer auch ein bisschen die Frage mit sich, was die Voraussetzung  ist, solche Aussagen treffen zu können.
    Es könnte ein „Ich mag mich (noch) nicht labeln, weil ich die Dinge irgendwann ganz anders sehen könnte.“ sein.
    Es könnte ein „Ich mag mich (noch) nicht labeln, weil ich gar nicht genug über mich weiß, um eine treffende Bezeichnung zu finden.“ sein.
    Es könnte ein „Ich muss mich nicht labeln, weil sowieso niemand in Frage stellt, wie ich mich sehe, deshalb kann ich auch für alles offen sein.“

Ich bin jemand, di*er viel darüber nachdenkt, welche Selbstbezeichnungen am besten für mich passen und ich weiß auch, wie es sich anfühlt, eine Identität verteidigen, erklären und rechtfertigen zu müssen – vor mir selbst und vor anderen – und die Verwirrung und die Unsicherheit, die das mit sich bringt, ist teilweise ziemlich anstrengend. Auf mich wirken solche Verallgemeinerung daher ein bisschen als würden Menschen, die eigentlich akzeptierend und unterstützend gegenüber Identitäten sind, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen, mir und anderen, denen ihre Labels wichtig sind, in den Rücken fallen.

Vielleicht lasst ihr Lesenden mich ein paar eurer Gedanken wissen? Würde mich interessieren, was andere dazu denken. Ich hoffe, dieser Post wirkt nicht als würde ich irgendjemandem Empfindungen zu dem Thema absprechen wollen.

Bis bald,

T.n.

2 Gedanken zu „Gedanken zu Labels, Selbstbezeichnungen und Verallgemeinerungen

  • 19/09/2016 um 00:43 Uhr
    Permalink

    Hey :)

    Du hast nach Gedanken gefragt und ich glaube, ich möchte gerne meine Sichtweise etwas darlegen.

    Deinen ersten Punkt bezüglich der Aussage, um die sich alles dreht, kann ich gut nachvollziehen. Ich persönlich fühle mich mit „festlegen“ in dem Zusammenhang aus ähnlichen Gründen wie du auch nicht wohl. (Ich kannte allerdings mal jemanden, der dieses Wort in einer ähnlichen Aussage bewusst wählte, aber das führt wohl zu weit.)

    Zu deinem zweiten Punkt gehen meine Gedanken allerdings in eine etwas andere Richtung. „Man“ ist für mich da zunächst einmal jedes menschliche Wesen auf diesem Planeten. Und diese Verallgemeinerung finde ich an dieser Stelle eigentlich gut. Mich würde es eher irritieren, wenn sie da nicht stünde – so nach dem Motto: „Ich muss mich nicht festlegen“, was für mich (situationsabhängig) eventuell einen Beigeschmack hätte von „Aber von dir (anderen) erwarte ich es“.
    Ich meine: Mit der Aussage „Man muss sich nicht festlegen“ ist ja im Prinzip nur gesagt „Niemand muss sich (mir gegenüber) labeln“. Damit ist ja nichts verboten. Es ist nur etwas erlaubt – falls man nicht möchte, muss man nicht.
    Natürlich ist auch das situationsabhängig. Wenn da noch ein unhörbares: „und deswegen erwarte ich, dass es auch keiner tut“ hinter schwebt, dann finde ich das auch nicht gut. Die Möglichkeit, eine Bezeichnung für sich selbst zu finden, sollte auf jeden Fall gegeben sein. Ob man das dann allen Menschen in seinem Umfeld mitteilt, ist eine andere Sache. Vor allem, wenn jemand das nicht wissen möchte (was ich allerdings für extrem unwahrscheinlich halte).
    Ich bin übrigens nicht der Meinung, dass Labels komplett abgeschafft werden sollten. Das hat unterschiedliche Gründe – nicht nur, dass das in einer Gesellschaft wie unserer meiner Meinung nach nicht umgesetzt werden kann. Ich glaube auch, dass es genügend Menschen gibt, denen es hilft, wenn sie eine Bezeichnung für die Art haben, wie sie denken/fühlen/sind.
    Außerdem ist das mit dem „Label nicht wichtig finden“ so eine Sache. Ich las letztens ein Buch* und in dem Vorwort schrieb einer der beiden Herausgeber sinngemäß Folgendes: Er ist stolz darauf gewesen, dass es ihm nicht wichtig ist, welche Sexualität seine Freunde haben. Er glaubte also, es würde ihm vollkommen egal sein, wenn sich jemand ihm gegenüber nicht labelt. Als er dann aber jemanden kennengelernt hat, der das tatsächlich über ein Jahr lang nicht getan hat, fühlte er sich doch irgendwo unwohl. Er hatte das Gefühl, denjenigen nicht so recht einschätzen zu können. (Genauso hat er während des Auswahlverfahrens für die Texte in diesem Buch während des Lesens immer überlegt, welches Geschlecht und welche Sexualität die Person hinter dem Text wohl hätte. Sobald er zu einem Ergebnis kam, hat er wohl deutlich entspannter und aufmerksamer/konzentrierter lesen können.)
    Ich will damit nicht sagen, dass jeder, der sagt, Labels seien ihm nicht wichtig, genauso tickt. Aber ich glaube, dass es sich im Alltag oftmals als schwieriger als gedacht herausstellen würde, komplett darauf zu verzichten. Ich persönlich habe die Erfahrung, dass jemand gesagt hat: „Ich verzichte darauf, mich irgendwo einzuordnen“, noch nie gemacht. Vielleicht gibt es Leute in meinem Umfeld, die das für sich getan haben, aber nie mir gegenüber – ich hatte also immer die Möglichkeit, sie in gewisse Schubladen einzuordnen. Daher weiß ich nicht, wie ich reagieren würde, wenn das doch passieren würde. Ich kann Vermutungen darüber anstellen und versprechen, dass ich die Person nicht anders behandeln würde als vorher auch (es sei denn auf eine Art und Weise, die sie mir kommuniziert und die ich auch leisten kann). Aber ich kann vorher einfach nicht wissen, ob es sich für mich nicht unbehaglich anfühlen würde, diese Person in einigen Bereichen überhaupt nicht einschätzen zu können.
    ((*“The Full Spectrum: A New Generation of Writing About Gay, Lesbian, Bisexual, Transgender, Question“, hrsg. von David Levithan und Billy Merrell))

    Also, kurzes Fazit dieses wirren Absatzes, vor allem, damit ich meine Gedanken geordnet bekomme: Die Verallgemeinerung finde ich gar nicht so schlecht. Ich finde, niemand sollte jemand anderen zwingen, sich auf eine Bezeichnung festzulegen. Die Tatsache, dass jemand im Prinzip sagt: „Für mich ist es in Ordnung, wenn andere sich nicht labeln“, könnte für andere Personen, die das nicht tun wollen (oder sich einfach in dem Moment zu unsicher dafür sind), eventuell sogar erholsam sein.
    Eine Gesellschaft ohne jegliche Bezeichnungen dagegen kann ich mir, genau wie du, nicht vorstellen.

    Deinen dritten Punkt … hm. Also, ich weiß gerade nicht, ob ich den nachvollziehen kann. Das liegt aber eventuell daran, dass wir im zweiten Punkt nicht einer Meinung sind und ich da die Aussage anders verstehe und interpretiere als du?
    Klar, wenn ich die Person persönlich gut kenne, macht mich eine solche Aussage eventuell neugierig, was die Beweggründe dahinter sind. Das liegt dann aber eher darin begründet, dass ich die Person noch besser kennenlernen möchte als sowieso schon (oder dass ich glaube, dass ich sie eventuell ihrer Meinung nach falsch behandle, bspw. durch Misgendern oder ähnliches). Die Aussage als solche würde ich vermutlich nicht anders interpretieren als vorher, wenn ich mit Sicherheit wüsste, welche privaten Motive dahinterstecken.
    Natürlich ist das jetzt ein bisschen ein Schuss ins Blaue. Ich habe diese Aussage, wie bereits angedeutet, immerhin noch nie von einem Gesprächspartner gehört.

    So. Ich denke auch viel darüber nach, wie ich mich am passendsten einordnen könnte, vor allem aktuell wieder. Ich hatte allerdings bisher das große Glück, mich nie vor jemand anderem als vor mir selbst rechtfertigen, erklären oder gar verteidigen zu müssen.
    Vielleicht liegt es daran, dass ich diese Aussage etwas anders verstehe als du. Ich kann mir Situationen vorstellen, in denen sie vorwurfsvoll wirken kann. (Doofes Beispiel: „Hey, du, ich bin bisexuell“ – „Ach Mensch, man muss doch nicht immer allem einen Namen geben, oder?!“) Aber einfach so für sich genommen, wie sie da oben steht, halte ich sie eher für eine Möglichkeit und eine Erlaubnis als für einen Zwang oder die, hm, Ankündigung, gewisse Dinge nicht (mehr) zu unterstützen.

    Aber natürlich ist so etwas sehr subjektiv. Von daher kann ich nachvollziehen, wenn jemand anders diese Aussage ganz anders versteht als ich.
    Ich hoffe übrigens, dass ich alles soweit verständlich formulieren konnte – in meinem Kopf ergibt es auch beim zweiten Durchlesen noch Sinn, aber das ist ja immer so eine Sache, ne?

    LG,
    Chris

    Antwort
  • 19/09/2016 um 01:17 Uhr
    Permalink

    Hey. :)
    So, ich sollte das vielleicht nicht jetzt schreiben, aber sonst vergesse ich es. Ich kenne mich. :’D
    Ich weiß gerade nicht, ob ich damit zu weit gehe, zu sagen, dass dieser Blogpost vielleicht mit durch mich ausgelöst sein könnte oder so? Bzw. ist es ja etwas, dass dich sowieso beschäftigt, von daher macht das nicht wirklich einen Unterschied. :’D
    Auf jeden Fall gehöre ich zu diesen Personen oder bin eine Person, was auch immer, die sich schwer tut mir labeln und vielleicht auch manchmal mit Formulierungen. Und mein Hirn ist heute etwas matsch.
    So, äh, ja, nein, ich will mich gerade eigentlich nicht rechtfertigen, sondern meine Meinung versuchen zu schildern.
    Ja, für mich ist es schwer, mich zu labeln, was zum Teil, zum Teil auch nicht an den Labeln liegt und vielleicht auch daran, dass ich mich nicht gerne einordnen mag. Mich beschäftigt das ganze Thema auch immer sehr, aber ich bin schon mehrmals zu dem Punkt gelangt, wo mir aufgefallen ist, dass eigentlich keins der Label so wirklich für mich funktioniert. Das Einzige, wo ich eigentlich 100% sagen könnte, dass ich mich da sehen würde, ist queer. Aber das ist ja nun wirklich sehr allgemein, finde ich.^^
    Das Ganze ist aber natürlich auch eine SEHR subjektive Sache, weil dieses ganze Empfinden sehr subjektiv ist. Ich war übrigens auch sehr sehr überrascht, dass da Menschen überhaupt ähnlich denken, wie ich und sich eventuell gar nicht da irgendwo einordnen/labeln möchten bzw es tatsächlich als in gewisser Weise nicht sinnvoll oder nicht (für sie) nötig erachten. Im Sinne von: Ja, ich hatte mal was mit einer Frau, aber seitdem nur mit Typen und bin ich dann bi oder doch hetero, hä?
    Es ist irgendwie sehr schwierig zu erklären, dass Label halt dann in dem Fall irgendwie keinen Sinn machen bzw zu nichts führen, meiner Meinung nach.
    Ich weiß nicht, vielleicht bin ich da auch einfach sehr perfektionistisch oder sage zu sehr: Ich halte mir alles offen, weil man weiß ja nie?
    Und da schließe ich mich übrigens dem Kommentar von Chris an, dass diese Verallgemeinerung einfach nur meint ‚Menschen‘ und nicht im Sinne von ‚alle‘ gemeint ist bzw, wenn ich solche Aussagen irgendwie treffe, meine ich eigentlich immer irgendjemanden, da könnte auch ein x stehen oder so. Ich will das dann nicht nur auf mich beziehen, sondern auf eben jeden, der sich eventuell davon angesprochen fühlt. :)
    Und was deinen letzten Punkt betrifft: Die Aussage kann vielleicht deshalb all diese Dinge meinen, weil vielleicht all diese Dinge gemeint sind. Wenn du dich jetzt wirklich auf meine Aussage beziehst bzw das ist ja sowieso meine Meinung – ich schreibe das extra so allgemein, damit quasi alles, was ich damit meinen könnte, inbegriffen ist.
    Vielleicht ist das auch eine komische Eigenart von mir. Aber ich neige ziemlich dazu, Dinge soweit zu verallgemeinern oder zu relativieren, dass sie auf sehr viele Situationen anwendbar sind. Ich hoffe, du verstehst, was ich damit meine.^^

    So, hier dann mal eine Art Fazit: Labeln ist meiner Meinung nach ein System, das für sehr viele Menschen sehr gut funktioniert und daran an sich will ich auch überhaupt nichts kritisieren. Das hat auch gar nicht unbedingt was mit in Schubladen stecken zu tun. Auch wenn es für mich eigentlich aus genau dem Grund nicht funktioniert. Denn für mich ist keins dieser Label sinnvoll bzw fühlt sich für mich passend an. Natürlich kann sich das noch ändern. Aber ich habe weder das starke Bedürfnis danach, das zu tun noch sehe ich da irgendeine Art von Notwendigkeit.
    Mit den ‚Oberbegriffen‘, nenne ich es mal, kann ich an sich was anfangen, aber da hört es eigentlich schon auf.
    Denn sobald ich weitergehe, gelange ich immer an den Punkt, dass ich mich frage, wofür ich mich labeln soll.
    Hier auch nochmal der Punkt mit dem ‚festlegen‘. War vielleicht auch schlicht eine dumme Wortwahl. Aber sich mit einem Label zu betiteln ist ja schon eine Entscheidung, die man trifft. Klar hat die sehr viel mit Gefühl und so weiter zu tun und es ist kein ‚Ich will das, weil ich das am Besten finde‘, sondern ein ‚Ich will das, weil das am Besten zu mir und zu dem, wie ich mich fühle, passt‘ und weil ich das Gefühl bisher bei nichts so 100% hatte und vielleicht auch nie haben werde, lege ich für mich quasi fest, dass ich da nirgendwo so richtig reingehöre.
    Klar hat das Alles auch viel mit Chaos in meinem Kopf und so zu tun, aber mir persönlich nimmt es die Unsicherheit tatsächlich zu sagen „Nö, ich möchte mich nicht labeln, weil ich danach weder das Bedürfnis verspüre noch es als notwendig ansehe“.
    Natürlich kann das andere Menschen auch sehr verwirren und so, aber für mich bedeutet, zu sagen, dass ich mich mit keinem Label so wirklich wohlfühle, auch, zu sagen, dass ich mit vielen Bezeichnungen einverstanden bin und ich mich daran auch nicht störe, solange es nicht in einem negativen Kontext ist (aka ‚Die Frau, die ja immer kocht‘ oder sowas in der Richtung^^).

    So, ähm, bevor ich hier mit noch mehr wirren, müden Matsch-Kopf-Gedanken um mich werfe, belasse ich es jetzt mal dabei. Ich hoffe, ich konnte dir meinen Standpunkt zumindest ein bisschen näherbringen. :)

    LG
    Haru

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